Wolfsverhalten in der Kulturlandschaft

Ein Gespräch mit Peter Sürth


Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

Von 1992 – 1997 habe ich zunächst 2 Jahre Biologie und 3 Jahre am Van Hall Institut in den Niederlanden Animal Management mit dem Schwerpunkt Wildtiermanagement studiert. Von 1996-2003 durfte ich für die Wildbiologischen Gesellschaft München und für das „Carpathian Large Carnivore Project (CLCP)“ in Rumänien das Verhalten der Wölfe, Bären und Luchse untersuchen. Meine Aufgabe war die Erforschung der großen Beutegreifer Wolf, Braunbär und des Eurasischen Luchses und deren Anpassungsverhalten an intensiv genutzte Kulturlandschaften. Als Wildtierexperte habe ich die Fachexkursionen des CLCP geführt.

 

Seit 2004 arbeite ich an dem eigenen Projekt „Der Weg der Wölfe“. Nach den vielen Jahren der Forschungsarbeit möchte ich es mir erlauben meinen Blickwinkel zu wechseln. In dem Projekt durchwandere ich verschiedene Lebensräume in meinen Expeditionen und versuche dabei den Blickwinkel der Wildtiere ein Stück weit einzunehmen. Dann folgt wieder der Wechsel um die Sichtweisen der verschiedenen Interessen der Menschen besser verstehen zu können. Auf meinen Expeditionen, bei denen ich viele Wochen am Stück unterwegs bin und im Freien übernachte, stosse ich auf viele Hindernisse für die Wildtiere und Verlockungen für die Wildtiere die am Ende zum Konflikt führen können.

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

Peter, was fasziniert dich so an Wölfen?

 

Ich habe mich nach meinem Studium im Wildtiermanagement früh auf die großen Beutegreifer Wolf, Braunbär und Luchs spezialisiert, finde aber eigentlich alle Tiere interessant. Wölfe leben in einem sozialen System, das dem unseren ähnlich ist: Kern ist die Familie mit Eltern und Jungwölfen, sie haben aber auch die Fähigkeit in größeren Gruppen zu leben. Das soziale System der Wölfe kann relativ flexibel an die lokalen Notwendigkeiten angepasst werden. Ich glaube, das ist es vor allem, was mich neugierig auf diese Tiere gemacht hat.

 

 

Du hast längere Zeit Wölfe in den Karpaten erforscht. Wie unterscheidet sich das Leben der dortigen Wölfe von denen in Deutschland?

Das ist zumindest mit den bewaldeten Mittelgebirgsregionen in Deutschland ziemlich vergleichbar.  Was in den Karpaten anders ist, das ist die Größe der Beutetiere: Es gibt Wildschweine, die bis zu 300 kg wiegen und Hirsche mit bis zu 250 kg Körpergewicht. Was auch anders ist, es gibt mehr Weidetiere und die Menschen sind Wölfe seit jeher gewöhnt. Die überwiegend forstwirtschaftlich genutzten Wälder, die landwirtschaftlichen Flächen, die dörflichen Strukturen, das ist schon sehr ähnlich und in meinem ehemaligen Forschungsgebiet trifft dies auch auf die Bevölkerungsdichte zu. Die Wolfsrudel sind auch dort vor allem Familien, bestehend aus dem Elternpaar und den Jungtieren im Alter von einem bis drei Jahren.

 

Aus Nordamerika und Kanada gibt es Schilderungen von großen Rudeln, die nicht nur aus den Mitgliedern einer Familie bestehen. Früher war man sicher, es gäbe einen starken Zusammenhang zur Größe der Beutetiere, also dass es beispielsweise dort eher große Rudel gibt, wo relativ viele Bisons und Elche gejagt werden. Es gibt aber auch dokumentierte Beispiele, wo ein einzelner Wolf einen Elch alleine erlegt, so wird dieser Zusammenhang in Frage gestellt.

Es gibt immer einzelne Beobachtungen die von einer eher allgemeinen Aussage abweichen. Sicher wird es einzelne erfahrene Wölfe mit besonderem Talent geben, die so etwas zustande bringen. Das wird aber eher die Ausnahme sein. Es braucht größere Rudel mit mehreren starken erfahrenen Wölfen, um schnell und zuverlässig die schwachen Beutetiere aus einer Herde herauszufinden oder einen Elch ohne größeres eigenes Risiko zu reißen. Es gibt immer Ausnahmen in der Rudelstruktur, aber aus meiner Sicht ist es sinnvoller den Regelfall zu diskutieren, ohne dabei die Ausnahmen zu vergessen. Häufig wird mehr bewertet als beschrieben. Insgesamt zeigen Wölfe, dass bei Ihnen vieles möglich ist: Mit Teamwork etwas schaffen, das alleine nicht funktionieren würde, sich temporär mit anderen Rudeln zusammenzuschließen um Vorteile in der Jagd zu haben.

 

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

 

Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, welche Rolle Kooperation bei der Jagd der Wölfe spielt. Sie sind meist nicht so lang zusammen wie Löwen, die ausgeklügelte Jagdstrategien zeigen. Aus Deutschland wird berichtet, dass Wölfe häufig alleine jagen, in Kanada wurde schon so etwas wie strategisches Verhalten beobachtet, etwa bei der Jagd auf Wapitis oder auf Bisons. Wie sehen deine Erkenntnisse aus Rumänien aus?

Ich möchte nur zu Fällen etwas sagen, die ich genau kenne. Unsere Forschung erfolgte im Wesentlichen über Radiotelemetrie und Spurensuche, dabei war immer nur ein Tier eines Rudels mit einem Sender versehen. Daher war nur selten ersichtlich, was die anderen Rudelmitglieder gerade machten. Einmal bin ich einer Spur von zwei Wölfen gefolgt, die einem Wildschwein folgten. Der eine Wolf ist im Zickzack dem Wildschwein gefolgt, der andere ist im Bogen einem Forstweg gefolgt und hat versucht dem Schwein den Weg abzuschneiden, in diesem Fall ohne Erfolg. Ich konnte die Wölfe nicht fragen, aber eine Strategie hatten die beiden bei ihrem Vorgehen wahrscheinlich schon.

 

Wenn Wölfe auf eine Rotte Wildschweine treffen, versuchen sie diese gemeinsam in Bewegung zu bringen und warten dann auf eine günstige Gelegenheit, etwa wenn sich ein unvorsichtiger Frischling zu weit entfernt.

 

Ich habe etwa 80 - 100-mal Wölfe in der Stadt gesehen, die Fähe war besendert. Die Wölfe sind dabei häufig nicht als Rudel gelaufen, obwohl sie das gleiche Ziel hatten. Die Fähe ist ein paar Mal direkt an den Leuten auf der Straße entlanggelaufen, der Rüde hat zeitgleich die Gleise gewählt und war öfter in Begleitung der Jährlinge.

 

Foto: Lennert Piltz
Foto: Lennert Piltz

 

Also kann das heißen, dass auch wenn in Deutschland Spuren eher von einzelnen Wölfen gefunden werden, sie vielleicht doch zu mehreren auf verschiedenen Wegen unterwegs sind?

Das weiß ich nicht, aber möglich ist das sicher.

 

Was wurde damals mit der Radiotelemetrie erforscht?

Es ging um das Leben und die Anpassungsfähigkeiten großer Beutegreifer in einer Kulturlandschaft. Es zeigte sich in diesem Zusammenhang, dass Wölfe keine „Wildnis“ brauchen, sondern sehr gut in von Menschen genutzten Habitaten zurechtkommen.

Oftmals höre ich, Wölfe müssten Angst vor Menschen haben, sonst wären sie gefährlich. Wölfe haben keine Angst, sie gehen den  Menschen nur aus dem Weg. Wird ein Wolf überrascht, wird er davonlaufen, rechnet er aber mit der Anwesenheit von Menschen bleibt er meistens eher gelassen.

 

Wölfe nutzen oder queren menschliche Infrastruktur um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen, das ist ein völlig normales Verhalten. Ein Wolf, der nachts durch ein Dorf läuft oder am Gartenzaun vorbei trottet heißt nicht, dass er sich den Menschen immer weiter nähert und irgendwann gefährlich wird.  Problematisch kann es nur werden, wenn Wölfe einen Bezug zu Menschen aufbauen, weil sie beispielsweise angefüttert werden. Eine Fähe  in Rumänien war häufiger im Zoo und hat sich aus dem Container Reste herausgeholt. Am Ende haben alle Wölfe einen eigenen Charakter. Was der eine Wolf kann, traut sich ein anderer Wolf nicht zu. Das ist bei uns nicht anders.  

 

Foto Lennert Piltz
Foto Lennert Piltz

 

Du bist teils sehr weit durch Wolfsgebiete gewandert und hast dabei die Landschaften aus Sicht der Wölfe versucht wahrzunehmen. Wie hast du das gemacht?

Nicht nur der Wölfe, sondern aller Wildtiere. Wandernde Wölfe stoßen auch auf natürliche und Hindernisse der Zivilisation, die ich anders wahrnehme, wenn ich mir vorstelle, ich würde als Wolf, Bär oder Luchs hier entlanglaufen. Ein wichtiger Fokus lag aber auf der Wahrnehmung der möglichen Nahrungsquellen. Wo gibt es welche Tiere, welche Spuren finde ich, wie passt das zur Landschaft in der ich mich gerade bewege? In meiner ersten Expedition 2005 bin ich von Rumänien nach Deutschland gewandert.

 

Zu Beginn in Rumänien bin ich dem Karpatenbogen gefolgt. Ich konnte regelmäßig Spuren von Bären, Luchsen, Wölfen und ihren wichtigsten Beutetieren, den Rehen, Rothirschen und Wildschweine finden. Ich quere die Grenze zur Ukraine und finde einen wunderschönen Wald vor, aber nahezu keine Tierspuren, weder die der Jäger noch die der Beutetiere.

 

Dann in der Slowakei plötzlich eine sehr hohe Dichte der Beutetiere, und etwa weniger Hinweise der Bären, Luchse und Wölfe im Vergleich zu Rumänien. Je weiter ich nach Westen gewandert bin, umso seltener wurden die Spuren der großen Beutegreifer. Eine ähnlich hohe Spurendichte stellte ich im niederschlesischen Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien fest, aber keine Hinweise mehr auf die großen Beutegreifer.

 

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

 

Du beschreibst den Einfluss des jagenden Menschen auf die Lebensbedingungen des Wolfes?

Ja.

 

Foto Peter Sürth
Foto Peter Sürth

 

Eine andere Expedition führte mich von der Schweiz über die Südalpen bis an das Mittelmeer. Mit zunehmendem mediterranem Einfluss wurden die Südflanken der Berge trockener,  während die Nordhänge feuchter und von mehr Vegetation bedeckt waren. Dort fanden sich die meisten Wildtierspuren. Wenn ich also als jagendes Tier unterwegs bin und Spuren lese, lerne ich am Ende auch viel über die Landschaft und die ökologischen Bedingungen  der Gegend, durch die ich mich bewege. Das ist ein wichtiger Teil der Wolfsperspektive: „Wo sind meine Beutetiere?“ Das ist auch Teil meiner permanenten persönlichen Fortbildung.

 

Foto Lennert Piltz
Foto Lennert Piltz

 

Nun ist unsere Wirklichkeit stark vom Sehen geprägt, bei den Wölfen ist der Geruchssinn sehr wichtig, hat das auch eine Rolle gespielt?

Bei Wölfen sind alle Sinne hervorragend ausgeprägt, sie benutzen alle Sinne gleichermaßen. Neben dem Riechen, Segen und Hören spielt auch die Wahrnehmung von Hitze und Kälte eine wichtige Rolle. 

 

 

Lesen Wölfe Spuren auch optisch?

Natürlich. Allerdings eher in Kombination mit dem Geruchssinn. Sie benutzen ihre Sinne anders als wir: Das Sehen um etwas zu finden, das Riechen um es genauer zu untersuchen. Wenn im Boden eine Höhle oder auf der Wiese Erde aufgeworfen wurde, sehen Wölfe dies zunächst, nähern sich und erforschen dann mit ihrer Nase  den Geruch. Auch das Folgen einer Fährte erfolgt dann über den Geruchssinn. Jeder der mit einem Hund unterwegs ist, wird bemerken, dass Hunde im Schnee die Spuren (Löcher im Schnee) zuerst sehen und dann die Nase reinstecken.

 

Foto: Lennert Piltz
Foto: Lennert Piltz

 

Wie würdest du deine Art des Spurenlesens beschreiben? Es gibt ja eine eher technische, eine intuitive Seite, außerdem Wissen über das jeweilige Tier und seine ökologischen Zusammenhänge.

Bei mir ist das geprägt von Intuition, Erfahrung und einem Bauchgefühl. Ich muss eine Fährte nicht immer zwangsläufig vermessen um relativ sicher und schnell einschätzen zu können, ob es  ein Wolf war.

 

Ich habe so viele Spuren gesehen und in den Karpaten gelernt. Dort sind nicht wie in Brandenburg oder Sachsen lange Sandwege, die das Spurenlesen erleichtern. Manchmal habe ich nur einen halben deutlichen Abdruck in einer Pfütze. Für mich kommt es darauf an, ein Gespür für dieses Tier zu bekommen: Wie ist es auf diesem Weg gelaufen, welche Route hat es gewählt, wie ist es um Hindernisse herumgegangen, so erzählt mir die Spur am Ende die Geschichte. Das klappt natürlich besser, je mehr ich die betreffende Gegend kenne. Wenn ich weiß wo welche Tiere schlafen, sich verstecken, fressen und trinken, kann ich auch die Spur des Tieres besser beurteilen. Vermessen hilft, wenn ich etwas sicher dokumentieren muss. Am Ende ist es die Anzahl der Indizien, die meine erste spontane Einschätzung untermauern - oder eben nicht.

 

In Rumänien gab es mal Versuche von Forschern, Wolfstrittsiegel zu vermessen und diese dann Individuen zuzuordnen. Das hat nicht gut funktioniert. Die Abdrücke eines einzelnen Wolfes unterscheiden sich teils deutlich je nach Untergrund, Steigung oder Gefälle und Motivation – viele Faktoren spielen eine Rolle. Eine seriöse Zuordnung war so damals nicht möglich.

 

Foto Peter Sürth
Foto Peter Sürth

 

Häufig werden Fragen zum Wolfsverhalten gestellt, auch wie intelligent sie sind und was sie denken. Was meinst du dazu?

Ich mag diese Vereinfachung und Pauschalisierung nicht: Menschliche Logik ist häufig nicht geeignet, um Tierverhalten zu erklären. Wölfe machen manchmal dies und manchmal das. Lokale äußere Faktoren sind wichtig wie familiäre Prägung, individuelle Erfahrungen und am Ende auch der Charakter des einzelnen Tieres. Jeder Wolf erforscht seinen Lebensraum vor dem Hintergrund, wie er es gelernt hat mit dem Fokus zu überleben.

 

Es gibt Beispiele, in denen Wölfe die Funktion der Hochstände kennengelernt haben. Die haben dann immer erst die Hochstände von hinten kontrolliert, bevor sie die Wiese betraten. Die Kameraleute auf dem Hochstand waren verwundert, wieso sie keine Wölfe zu sehen bekamen. Insgesamt sind Grundmuster schon ähnlich, Wölfe haben spezifische Fertigkeiten, am Ende wird es jedoch sehr komplex und jeder Wolf hat sein eigenes Verhalten.

 

 

Wie äußert sich das – beispielsweise im Zusammenspiel zwischen Rudelmitgliedern und externen Wölfen?

Alles ist möglich. Der Regelfall ist sicher, dass ein Rudel das eigene Revier gegen Eindringlinge verteidigt. Es gibt aber auch freundschaftliche Beziehungen zu fremden Wölfen oder benachbarten Rudeln. Manche vertragen sich, andere nicht, das kann bis zu tödlichen Auseinandersetzungen gehen. So gibt es tödliche Überfälle auf Nachbarrudel, etwa um das Revier zu übernehmen.

 

In den Karpaten konnte ich zwischen 1996 und 2003 insgesamt sechs Wolfsrudel erforschen: Da kam es vor, dass zwei benachbarte Rudel sich mehrfach trafen, auch gemeinschaftlich heulten oder in einem Fall gemeinsam  an einem Hirschkadaver lokalisiert wurden. Bei zwei anderen Rudeln dagegen deuteten Telemetriedaten und Spuren auf ernsthafte Auseinandersetzungen hin, vermutlich ging es dabei um territoriale Konflikte.

 

Bei vielen sozialen Wildtieren gibt es verschiedene Strategien des Verhaltens, welche Beziehungen gepflegt werden oder in welchen Situationen  gleichgültig, besänftigt oder aggressiv reagiert wird. Es gibt im Konfliktfall auch unterschiedliche Wege damit umzugehen. Ein Wolf hat Nahrung, der andere will es ihm wegenehmen: Nur in ganz seltenen Fällen kommt es in solch einer Situation zum ernsthaften Kampf. Mit Drohgebärden und ritualisierten Verhaltensweisen wird der Konflikt ausgetragen, meist zieht sich dann einer der Kontrahenten zurück, und Teilen gehört ebenfalls zu den Alternativen.

 

Foto: Karsten Nitsch
Foto: Karsten Nitsch

 

In Deutschland hört man von Jägern, die teilweise großen Wildschweinrotten in Deutschland wären eine Folge der Wölfe, also sogenannte „Angstrotten“. Ich selbst habe in Sachsen teils Rotten von 50-60 Tieren beobachtet, die aber auch in Gegenwart von Wölfen alles andere als ängstlich wirkten.

 

Große Wildschweinrotten gab es in Deutschland schon, als die Wölfe noch gar nicht wieder da waren. Meines Wissens gibt es keine wissenschaftlichen Studien zu dem Thema, daher sind auch belastbare Aussagen schwierig. Am wahrscheinlichsten ist aus meiner Sicht ein Zusammenhang mit einem hohen Nahrungsangebot.

 

 

Wildäcker in den Wäldern und Mais auf den Feldern, dazu milde Winter?

 

Ja genau. Sicher gibt es auch Zusammenhänge zu den Mastjahren, also den Jahren mit vielen Bucheckern und Eicheln. Gibt es viel Nahrung, gibt es auch viele Wildschweine und vermutlich auf größere Rotten.

 

 

Als ich in den Karpaten war, sagten die Schäfer mir, dass sie dort gut mit Wölfen und Bären klar kämen. Sie sagten: „Wir würden das Vieh nie alleine lassen“, hatten also immer Schäfer bei den Herden. Die Schafe eines Dorfes wurden in einer Herde von 2-3 Hirten und einigen Herdenschutzhunden bewacht. Daneben gibt es aber auch Dokumentationen, in denen rumänische Schäfer über für sie schwer tragbare Verluste klagen. Wie hast du das erlebt?

 

Zunächst einmal gibt es dort ebenso wie in anderen Wolfsregionen auch verschiedene Menschen mit ihren eigenen Sichtweisen und Interessen. Dann muss man mit der Interpretation der Äußerungen vorsichtig sein: Manche erzählen Fremden, was diese vermeintlich hören wollen oder was gerade opportun zu sein scheint.

 

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

 

Am Ende gibt es gut und weniger gut geschützte Schafe, aufmerksame und schlampige Hirten, gut und weniger gut gebildete Menschen, gut und schlecht arbeitende Herdenschutzhunde, erfahrene mutige oder dreiste Wölfe und solche die eher vorsichtig sind. Bei den Forschungsarbeiten zu dem Thema habe ich genau das festgestellt. Das Verhalten der Wölfe war aber ganz genau auf den jeweiligen Schutz der Schafe eingestellt, wie gut er funktionierte. Anders ausgedrückt, die Wölfe wussten genau bei welchem Schäfercamp sie erfolgreich sein können und wo nicht.

 

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

 

Vielleicht noch ein kurzer Ausflug zu den Luchsen: Die Wölfe haben augenscheinlich keine Probleme, sich in Deutschland wieder auszubreiten und neue Territorien zu besiedeln. Du beschäftigst dich auch mit Luchsen – wieso tun sich diese so schwer mit der Ausbreitung – Rehe gibt es doch genug?

 

Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich halte Luchse gegenüber Menschen für unvorsichtiger als Wölfe. Luchse verlassen ihre Mutter schon bevor sie ein Jahr alt sind, sie sind dann weniger erfahren. Ich bin einmal mit Studenten sprechend über einen Forstweg gelaufen, wir bogen um eine Kurve, da saß ein Luchs vor uns auf dem Weg. Er blieb sitzen, schaute uns an und ging dann in aller Ruhe weg. Mit Kastenfallen oder sichtbaren Fallensysteme  fängt man  kaum einen Wolf, bei Luchsen funktioniert das einfacher.

 

Luchse haben zudem eine niedrigere Reproduktionsrate als Wölfe, daher dauert es länger, bis sich Bestände neu aufbauen können. Bei Wölfen können beide Geschlechter der Jungwölfe weit wandern, bei den Luchsen überwindet fast nur der Kater große Distanzen, die Luchsin ist eher am Rand des mütterlichen Reviers unterwegs. Aus neueren Genuntersuchungen weiß man, dass selbst bei relativ benachbarten Luchspopulationen zum Teil nur ein sehr geringer genetischer Austausch stattfindet.  Das hängt scheinbar insbesondere von der Lebensraumgestaltung ab. Beim Wandern sind sie auf Gebiete mit Deckung angewiesen, großflächige offene Landschaften meiden sie eher als Wölfe. Das macht die Erschließung neuer Gebiete nicht einfacher.

 

Also können Gebiete, die nicht durch bewaldete Deckungsstreifen verbunden sind nur schwer durch die Luchse selbstständig besiedelt werden?

 

Ja, die Luchse haben es nicht leicht in Deutschland, aber nicht weil der Lebensraum ungeeignet ist, sondern weil der Wille fehlt für die Luchse aktiv mehr zu tun.  Nach 40 Jahren Luchsen in Deutschland gibt es laut letztem Monitoringbericht aus dem Jahr 2019 erst 127 Tiere.

Will man das ändern, muss es weitere Wiederansiedlungsprojekte geben, vor allem dort wo es schon Kater gibt. Lebensräume müssen besser miteinander vernetzt sein. Für den Luchs entscheidend ist allerdings  die Akzeptanz in der Bevölkerung, da gibt es noch weiterhin Vorbehalte und Wissenslücken. Das Konfliktpotential zwischen Menschen und Luchsen ist als gering einzustufen, für uns Menschen und als groß für die Luchse durch uns Menschen.

 

Foto: Peter Sürth
Foto: Peter Sürth

 

Die Akzeptanz der Bevölkerung ist auch ein wichtiges Thema, wenn es um die Wiederkehr der Wölfe in zivilisierte Landschaften geht. Was ist in diesem Zusammenhang wichtig? Was muss passieren damit ein Zusammenleben funktionieren kann?

 

Ganz allgemein  gibt es einen großen Bedarf über den Wolf zu erfahren. Menschen zeigen da einen großen Wissensdurst, da kann und muss noch einiges an Bildungsarbeit geleistet werden. Insbesondere die Aus- und Weiterbildung innerhalb der Landwirtschaft in den landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten und der Jägerschafft mit ihren Jagdschulen ist sowohl zum Thema große Beutegreifer als auch zum Thema Mensch-Wildtier-Management als sehr unzureichend einzustufen. Zusätzlich gibt es gerade bei Weidetierhaltern und Jägern einzelne Personen die absolut keine Dialogbereitschaft zeigen geht. Es gibt auch  Weidetierhalter und Jäger, die einer Rückkehr der Wölfe und Luchse positiv gegenüber stehen.

 

Ich arbeite viel mit Kindern, die lieben das Thema und kommen mit viel Neugier und kritischen Fragen. So gibt es eine gute Chance, den Wissensstand in der Bevölkerung ein Stück weit zu verbessern. Im Schwarzwald besuche ich jedes Jahr etwa  30 Schulen, das hört sich vielleicht viel an. Es handelt sich dabei aber nur um einen kleinen Teil der Schulen in der Schwarzwaldregion, da bleibt mit Blick auf das Bundesgebiet noch eine ganze Menge zu tun. Daneben schule ich Umweltpädagogen und mache Fortbildungen für Lehrer, um so die Breitenwirkung weiter zu erhöhen. In den Wolfsmanagementplänen der Bundesländer steht Bildungsarbeit als Handlungsfeld mit drin, jedoch sind damit nur Schäfer, Förster und Jäger gemeint.

 

Es gibt in der Gesellschaft eine Mehrheit, die die Wiederkehr der Wölfe befürwortet. Das ist für mich aber nicht relevant. Relevant ist die kritische Hinterfragung wie wir als Menschen eigentlich mit anderen Lebewesen umgehen, insbesondere dann, wenn sie uns nicht in den Kram passen. Das Konfliktpotential zwischen Menschen und Wölfe ist deutlich höher als mit dem Luchs. Wölfe werden immer ihren Lebensraum aktiv erforschen und sich gelegentlich in unmittelbarer Siedlungsnähe aufhalten. Die Angst vor Wölfen ist vorhanden, ebenso wie die „Vergötterung“.

 

Manch einer sieht in Wildtieren sein Eigentum, dass ihm der Wolf wegfrisst. Entscheidend ist aber, die Wölfe werden immer versuchen auch Weidetiere als Nahrungsquellen zu nutzen. Das hat zur Folge, dass Weidetier geschützt werden müssen. Der Aufwand dazu ist wiederum für jeden Weidetierhalter sehr unterschiedlich. Es bräuchte dazu oft auch eine fachliche Begleitung, weil es je nach Weidesystem, lokalen Situationen, Tierart und Betrieb geeigneten Veränderungen im System bedarf.

 

Ich unterstütze Weidetierhalter in den Forderungen nach mehr professioneller Hilfe und kritisiere sie, wenn es um die Abschaffung von Wölfe oder anderen Wildtieren geht. Der Umgang mit den Wölfen muss  professioneller werden. Die Diskussionen sollten rein sachlich geführt werden, hierfür braucht es Offenheit bei allen Beteiligten und vor allem mehr Bildungsarbeit.

 


Hier findet ihr Peter's Homepage "weg der Wölfe" mit Informationen zu seinen bisherigen Forschungen, seinen Touren und geplanten Expeditionen.