Wildschweinverhalten in Berlin - Ein Gespräch mit  Konstantin Börner


Ich bin auf einem Bauernhof in Brandenburg groß geworden und wurde schon früh in Kontakt zur Natur und ihren Prozessen gebracht. Nach dem Abitur habe ich Biologie und Agrarwissenschaften an Humboldt-Universität zu Berlin studiert.

Um das ganze noch zu vertiefen, hab ich im Anschluss über den Rotfuchs promoviert.

 

Ich habe das große Glück heute im Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung arbeiten zu dürfen. Meine Forschungsfragen beschäftigen sich neben der urban ecology mit den individuellen Lebenslaufstrategien von Wildtieren.

 

Herr Börner wie sind Sie zu den Wildschweinen gekommen?

Am Leibnitz-Institut in Berlin bietet es sich natürlich an, das Verhalten von Wildscheinen zu erforschen, da hier Wildmanagement durch verschiedene Berührungspunkte zwischen Wildschweinen und Menschen eine hohe Relevanz hat. Ich bin aber schon in meiner Jugend auf einem Bauernhof in engen Kontakt zu Schweinen gekommen. Mich hat damals schon fasziniert den unterschiedlichen Charakter verschiedener Ferkel zu beobachten: Es waren immer die gleichen Tiere, die sich meinem Fußball genähert haben, wenn ich ihn mal wieder versehentlich in den Stall geschossen habe, andere waren zurückhaltener.

 

In den Medien wird häufig mit Schlagzeilen wie „Berlin, Stadt der Wildschweine“ oder „Berlin: Überrannt von Wildschweinen“ ein Bild gezeichnet, nachdem sich eigentlich kein Berliner mit Anbruch der Dämmerung mehr vor die Haustüre wagen darf. Sieht man sich an, wo die Wildschweine in Berlin vor allem leben, handelt es sich schwerpunktmäßig um Außenbezirke mit Kontakt zu brandenburgischen Wäldern. Ist die Darstellung der Medien nicht maßlos übertrieben?

Sicher ist das so, da wird schon auch dramatisiert. Auch Stadtwildschweine brauchen Rückzugsgebiete um ihre Jungen aufzuziehen, um Nahrung, Wasser und Ruhe zu finden. Das finden sie nicht überall in Berlin, daher wird man sicher auch künftig keine Populationen in den mittleren Stadtteilen finden. Natürlich gibt es aber auch Schäden, das sollte man schon ernst nehmen: Vorgärten, Parks oder ein Sportplatz wurden schon umgegraben, daneben sind Gefahren durch Wildunfälle im Straßenverkehr und Aggressionen bei Begegnungen mit Menschen Thema für uns im Wildtiermanagement.

 

Foto: Konstantin Börner
Foto: Konstantin Börner

 

Ich kenne das eher so, dass es bei respektvollem Verhalten und vor allem genug Ausweichmöglichkeiten für die Wildschweine keine ernsthafte Gefahr von den Wildschweinen für Menschen ausgeht. Statistisch kommt außerhalb von Jagdunfällen kaum ein Mensch zu Schaden.
Das ist im Prinzip auch richtig. Hier in Berlin gibt es aber die Situation, dass es unzugängliche Stellen in Waldgebieten gibt, in denen gleichzeitig auch Stadtbewohner ihren Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Vor allem Hundebesitzer können dann auf diesem Wege mit ihren unangeleinten Tieren ernsthaft in Bedrängnis kommen. Etwa zehn Fälle jährlich kommen vor, bei denen es dann meist zu Angriffen auf die Hunde kommt. Als Mensch muss man schon einige Warnungen, wie deutliches Schnauben oder Scheinangriffe missachten, bevor es zu einer ernsthaften Aggression kommt.

 

Unterscheiden die Schweine dabei nach realer Gefahr, also werden große Hunde ernsthafter als kleine angegangen?

Ja, das ist in jedem Fall so, große Hunde passen eher ins Wolfsmuster, aber auch kleine Hunde können zu Schaden kommen, wenn sie sich einer Rotte nähern.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Jäger haben mir berichtet, Wildschweine würden immer schlauer: Sie würden bei Drückjagden einfach sitzenbleiben und die Treiber durchziehen lassen, frühzeitig das betreffende Revier verlassen, wenn sie feinfühlig merken, dass eine Jagd vorbereitet wird. Auch seien einige Keiler Meister darin, sich unbemerkt durch eine Treiberkette zu schleichen. Daneben haben Wildschweine verstanden, dass sie in Maisfeldern nicht nur Nahrung finden, sondern auch nicht gut gejagt werden können. Was halten Sie davon?
Einerseits gibt es sicherlich intelligente Feindvermeidungsstrategien, andererseits halten aber auch nicht alle Erzählungen einer Überprüfung stand. Im polnischen Nationalpark  Białowieża sind Wildschweine noch tagaktiv, in den allermeisten anderen Gebieten haben sie sich an die menschliche Zivilisation angepasst und ihre Aktivitäten in die Nacht verschoben. Wildschweine lernen sozial, vor allem erfahrene Bachen geben mit ihrem Verhalten ihr Wissen an ihre Nachkommen weiter. „Landscape of Fear“ ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Begriff. Wildschweine entwickeln eine innere Landkarte der Furcht, der Gefahren und richten ihr Verhalten danach aus, andere Tiere machen das im Übrigen ähnlich.

 

So gab es Versuche mit besenderten Wildschweinen, bei denen untersucht wurde wie sich ihre Raumnutzung verändert, wenn ein Frischling geschossen wird. Der „Tatort“, eine Freifläche, wurde längere Zeit gemieden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch um andere Freiflächen ein Bogen gemacht wurde. Das Erfahrungswissen wurde also übertragen, der Charakter dieser Landschaftsform erkannt. Aus vielen Einzelbegebenheiten entwickelt die Bache dann ihre innere Landkarte, die auch auf Jahres- und Tageszeiten bezogen wird, sie lernt also den Rhythmus der Menschen und der damit verbundenen Gefahren in ihrem Habitat kennen. Erfahrene Bachen sind extrem vorsichtig, es kann Tage dauern bis sie neue Kirrungen (Lock-Anfütterungen) annehmen.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Ich habe einmal beobachtet, wie zwei Wölfe einen Frischling aus einer Rotte gerissen haben, dann abgezogen sind. Die Wildschweine waren nach kurzer Zeit wieder an der gleichen Stelle und haben weiter gefressen.

Ja, da wissen wir nicht viel drüber, viel hängt von der Erfahrung der Bachen ab. Wir hatten auch Beispiele, wo unerfahrene Tiere diese gefährlichen Orte nicht gemieden haben und am nächsten Tag wieder vor Ort waren.

 

Wie kann man sich dieses Lernen der Frischlinge vorstellen?

Zum einen durch Imitieren des Verhaltens der erfahrenen Bache, dann gibt es meiner Meinung nach aber auch ein Vererben von Wissen. Es gab dazu einmal Versuche an Mäusen, bei denen man noch Generationen später Auswirkungen des Lebensbedingungen der Vorfahren messen kann. Ich bin davon überzeugt, dass es so etwas auch bei Wildschweinen gibt.

Es ist aber schwer zu sagen, weil verhaltenskundliche Untersuchungen sehr aufwändig sind und meist länger dauern müssten, als die 2-3 Jahre, die Forschungsprojekte häufig laufen. Allein das Fangen und Besendern fordert viel finanzielle und zeitliche Ressourcen, zudem können aus Sendersignalen nicht alle relevanten Informationen abgeleitet werden, um das Wildschweinverhalten interpretieren zu können. Inzwischen gibt es Sender mit Beschleunigungssensoren, da ist ein sehr viel differenzierteres Bild ableitbar. So kann nicht nur abgelesen werden, wo das Schwein gerade ist, sondern auch was es macht.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Abgesehen von der Jagd und Hunden, was bedeutet eine Störung für Wildschweine in der Stadt? Von anderen Wildtieren kenne ich es, dass es gewissermaßen um die Kalkulierbarkeit von Störungen geht. Eine Autobahn, ein Gewerbegebiet stört Wildtiere lange nicht so sehr wie ein ständiger Wechsel aus Fußgängern, Hunden, Sportlern, Radfahrern, spielenden Kindern oder forstwirtschaftlichen Tätigkeiten.
Das ist hier genauso. Es gibt Wildschweine, die bewusst die Nähe von vielbefahrenen Bundesstraßen suchen, vermutlich, weil dort kaum jemand spazieren geht. Auch kann es gut sein, dass sie mittlerweile gelernt haben, dass dort keine Jagden durchgeführt werden. In Skandinavien, wo es Luchse und Jäger gibt, ist es für Rehe teils schwer zu entscheiden, wo es am sichersten ist. Auf den Lichtungen wird gejagt, der Lauerjäger Luchs wartet im Wald.

 

Haben Stadtwildschweine Nachteile durch einseitige Ernährung? Hängen sie etwa sehr von den Mastjahren der Buchen und Eichen ab und können sich nicht wie in freier Natur jeweils die Gegend mit der besten Nahrungsverfügbarkeit aussuchen?
Nein, die finden auch im städtischen Umfeld ausreichend verschiedene pflanzliche Nahrung, auch tierisches Eiweiss im Boden, die Mastjahre der Buchen und Eichen sind auch zu unregelmäßig, um eine Abhängigkeit zu begründen.

 

Eine Ausnahme sind vielleicht die Wildschweine in Grunewald, die kamen auch einmal in Verbindung mit ausbleibender Mast in Schwierigkeiten, mit massivem Untergewicht und Räude, das sind immer erste Anzeichen für eine Population, die an Kapazitätsgrenzen stößt. Besonders an Grunewald ist vielleicht noch im Gegensatz zu den anderen Wildschweinpopulationen in Berlin, dass das Habitat früher durch die Berliner Mauer begrenzt war, so dass die Tiere keine Ausweichmöglichkeiten hatten. Dies zeigt sich noch heute im Verhalten der Wildschweine.

 

Foto: Konstantin Börner
Foto: Konstantin Börner

 

Es gibt Berichte über Wildschweine, die immer noch uralte Wildwechsel benutzen, geht das beschriebene Verhalten in diese Richtung?
Ich glaube schon, es schien als wären die Wildschweine nach wie vor durch eine Mauer in ihrer Mobilität beschränkt, sie versuchten jedenfalls nicht, sich in dieser Richtung alternative Nahrungsquellen zu erschließen. Diese Korridore, die alten Wechsel werden nicht nur sozial erlernt sondern können auch epigenetisch gespeichert und so an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.

 

Besteht in solch abgeschlossenen Populationen nicht die Gefahr genetischer Verarmung?
Das kann, muss aber nicht so sein. Zunächst einmal bedeutet es nicht, wenn kein Schwein das Habitat verlässt, dass keines von außen hinzukommt. Dann gibt es auch Beispiele von anderen Tieren, beispielsweise Victoria-Barschen, bei denen isolierte Populationen keine derartigen Zeichen erkennen lassen.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Es gibt mehrere Wildschweinpopulationen in Berlin, die in der Wuhlheide finde ich besonders interessant, weil es kaum eine breite Grünbrücke in das brandenburgische Umland gibt.
Auch dort gibt es ausreichend Rückzugsmöglichkeiten. Die Besiedlung erfolgte sicher schwimmend durch die Spree oder über die Gleisbereiche, die parallel dazu verlaufen. Bei der Besiedlung solcher Orte zeigt sich wieder der unterschiedliche Charakter der Wildschweine: Mutige Individuen, ich nenne sie mal „Eroberertypen“ werden benötigt um neue Populationen aufzubauen. In dieser Gruppe gibt es aber auch sicherlich erhöhte Mortalitätsraten.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Interessant ist, dass es vor allem Ubiquisten sind (Tiere, die nicht an ein Habitat gebunden sind), die als Kulturfolger in menschlichen Siedlungen neue Populationen aufbauen können. Gleichzeitig ist es bei den Berliner „Stadtschweinen“ zu einer deutlichen Habitatprägung gekommen. Das heisst: Ein Stadtschwein bleibt ein Stadtschwein und wandert nicht wieder in das Umland ab. Eher bilden sie im Stadtgebiet neue Populationen wie bei den Tegeler Wildschweinen, deren Ursprung wir genetisch eindeutig klar der Grunewalder Population zuordnen können.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Also wandern auch junge Keiler nicht ins brandenburgische Umland ab?
Nein, die sind vor allem auf das Stadtleben sozialisiert und suchen sich eher ein städtisches Gebiet aus.

 

Bei Wildschweinen gibt es neben Bachen mit ihren Nachkommen mehrerer Generationen auch andere soziale Strukturen: Keiler, die weiter umherzuziehen, junge Wildschweine, die die Rotte schon verlassen haben, aber in der Nähe bleiben oder sich auch zu kleinen Gruppen zusammenschließen. Rotten, die zu groß werden teilen sich in zwei oder mehr Rotten auf. Ist bei den Stadtwildschweinen auch genug Raum vorhanden , um diese soziale Flexibilität zu gewährleisten?
Ja, in der Regel gibt es auch in stärker frequentierten Gebieten genügend Platz.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Heinz Meinhardt (ein inzwischen verstorbener Wildschweinforscher aus Burg) berichtete von Freundschaften bei Wildschweinen, was halten sie davon?
Es gibt schon Liegepräferenzen, also Schweine, die gerne nebeneinander ruhen und sich gegenseitig pflegen. Diese körperliche Zuwendung wird nicht gleichmäßig verteilt. Wie früher auf unserem Bauernhof, da konnte ich schon Kooperation und freundschaftliches Verhalten zwischen einzelnen Schweinen beobachten. Ich würde sagen man weiß eigentlich, dass es so ist, hat es aber wissenschaftlich noch nicht untersucht. Es gibt einige wenige Tiere, wie Rabenvögel, die auch Futter teilen. Ich glaube, dass das Wildschweinen auch vorkommt, weiß es aber nicht sicher.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Wie sieht es mit Versuchen aus, die Schweine über Gerüche oder Geräusche von Orten fernzuhalten, an denen sie unerwünscht sind?

Dafür sind sie zu schlau. Wenn es mal eine Wirkung gibt, dann hält die nicht lange an, Schweine lernen schnell.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Wenn Wildschweine neu in einem Habitat vorkommen, wird neben den Schäden in Gärten und Parks auch von ökologischen Vorteilen berichtet: Sie fressen die Larven von Schadinsekten, brechen den Boden auf und sorgen für Lüftung und neue Strukturen am Boden. Welchen Blick haben Sie auf das Thema?
Das ist sehr vielfältig. Vor allem wird eine gesellschaftliche Entscheidung benötigt, wie wir damit umgehen wollen, dass Wildtiere mit den Fähigkeiten der Wildschweine mitten unter uns leben. Möchte man das, muss man sich an ein paar Spielregeln halten, dann kann das gut gelingen. Ökologisch entstehen durch Wildschweine wie schon beschrieben neue Lebensräume. Auch durch das Fell werden Samen an neue Orte getragen, da gibt es verschiedene positive Wirkungen. Man darf auf der anderen Seite aber auch nicht vergessen, dass es Orte gibt, an denen seltene Bodenbrüter wie Limikolen (Watvögel) vorkommen und Wildschweine deren Bruten  gefährden.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Eigentlich braucht es aber auch im viel stärkeren Maß als bisher Umweltbildung? Ich kenne das so, dass Kinder sich wie verrückt auf den Biologieunterricht freuen und sich dann drei Jahre lang mit Doppel-Helix-Strukturen herumquälen müssen. Wenn es dann aber darum geht, die Rückkehr des Wolfes, das Leben der Wildschweine oder Gänse ökologisch einzuordnen fehlt die Kenntnis - die öffentliche Meinung wird dann von Interessenvertretern unterschiedlichster Herkunft in den Medien bestimmt.
Ja da gibt es sicher einen riesigen Nachholbedarf. Wir wollen ja auch an dieser Stelle unseren Teil zur Aufklärungsarbeit beitragen.

 

Foto: Bärbel Franzke
Foto: Bärbel Franzke

 

Hier geht es zur Seite des Berliner Leibniz Instittus für Zoo- und Wildtierforschung mit weiterführenden Informationen.