"Die Zeit arbeitet für die Wölfe"


Ein Gespräch mit dem Zoologen, Fotografen und Buchautor Axel Gomille.

 Axel Gomille ist Diplom-Biologe und Fotograf. Er studierte Zoologie in Frankfurt und Florida und arbeitet beim ZDF als Redakteur und Autor mit dem Schwerpunkt Natur und Wildtiere. Seine Tätigkeit als Fotograf und Filmemacher führte ihn in viele der schönsten Naturreservate der Erde. Dabei interessiert ihn besonders, wie ein Nebeneinander von Menschen und Wildtieren im 21. Jahrhundert gelingen kann, denn wilde Tiere sind seine große Leidenschaft. Seine Fotoreportagen sind in internationalen Magazinen erschienen, für seine Fotos und TV-Dokumentationen wurde er mehrfach ausgezeichnet, er hat bisher neun Bücher veröffentlicht. Nach seinem Bestseller „Deutschlands wilde Wölfe“ spricht er mit seinem Werk „Wölfe – unterwegs mit dem Tierfotografen Axel Gomille“ gezielt Kinder und junge Menschen an. Seit vielen Jahren beobachtet er immer wieder wildlebende Wölfe in Deutschland und berichtet in Wort und Bild über ihre Situation. Gerade ist sein neuer Bildband „Deutschlands wilder Osten“ erschienen.

 

Axel, wie kam es zu Deinem Interesse für Wölfe?

Wölfe umgibt eine geheimnisvolle Aura, weil sie sich nur schwer beobachten lassen. Auch wenn klar ist, dass Wölfe anwesend sind, heißt das ja noch lange nicht, dass man sie auch zu Gesicht bekommt. Es ist immer eine Herausforderung. Schon ihre Spuren zu finden ist für mich faszinierend, weil ich so Hinweise auf ihren Aktionsradius und ihr Verhalten bekomme und dabei ihre Präsenz spüren kann. Ihr Sozialverhalten im Rudel ist komplex und vielseitig, ihr Heulen geht mir durch und durch. Auch andere Tiere haben natürlich interessante Seiten, wie beispielsweise Eichhörnchen – sie beeindrucken mich aber lange nicht so wie Wölfe.

 

Abgesehen von mythologischen Bildern hat der Wolf heute auch gesellschaftlich eine andere Rolle?

Ja, er gilt oft als „Problemart“. Ich interessiere mich schon sehr lange für die Frage, wie die Koexistenz mit potenziell gefährlichen Wildtieren gelingen kann. Um dieser Frage nachzugehen, bin ich viel gereist: Wie leben Menschen in Rumänien mit Bären, in Indien mit Tigern, in Kirgistan mit Schneeleoparden oder in Afrika mit Löwen? Dort sind diese Raubtiere nie verschwunden. Hier ist es anders: Die Wölfe kehrten zurück, nachdem sie lange ausgerottet waren – direkt vor unsere Haustür. Viele Menschen müssen sich darauf erst einstellen.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Wölfe sind nun schon zwanzig Jahre wieder hier, wie nimmst Du die öffentliche Diskussion wahr? Aus meiner Sicht werden in Teilen der Medien häufig Ängste geschürt und Interessen verfolgt, wobei Stimmen aus der Wissenschaft kaum einmal zu hören sind.

Man kann schon sagen, dass leider immer wieder fahrlässig mit der Berichterstattung umgegangen wird. Bei Berichten zu Nutztierrissen oder auch in einem Todesfall einer Urlauberin in Griechenland nutzen einige Zeitungen schnell jede Chance, in reißerischen Schlagzeilen auf Wölfe zu verweisen. Zeigen später DNA-Untersuchungen, dass beispielsweise Hunden die Vorfälle zuzuschreiben sind, fehlen die Dementis oder werden klein auf hinteren Seiten versteckt. Viele Medienvertreter prüfen Quellen nicht, sondern übernehmen nur Texte. Es ist sicher nicht weit hergeholt zu vermuten, dass Fehlinterpretationen zumindest billigend in Kauf genommen werden, weil am Ende mit Ängsten Geld verdient wird. Daneben wird aber auch für eine sachlich differenzierte Darstellung der biologischen Zusammenhänge Raum benötigt, der in vielen Medienformaten nicht vorhanden ist. Wir dürfen aber nicht müde werden, diese Diskussionen in der Öffentlichkeit zu führen – steter Tropfen höhlt den Stein.

 

Wo hast Du überall Wölfe beobachtet?

Meinen ersten Wolf habe ich am 1. März 1995 in der Wüste Thar im Westen Indiens gesehen. Dort habe ich mich auf die Suche nach den realen Protagonisten des Dschungelbuchs begeben, wie Tiger, Bär, Python und Wolf. Ich war mit einem sehr alten Herrn unterwegs, der erst sieben Mal in seinem Leben einen Wolf gesehen hatte, die Chancen standen also wirklich nicht gerade gut. Ich wollte aber unbedingt versuchen, einen indischen Wolf zu beobachten, was uns dann auch tatsächlich gelang. Hier wurde auch schnell deutlich, wie unterschiedlich der Körperbau von Wölfen sein kann, jeweils angepasst an den entsprechenden Lebensraum. Indische Wölfe sind relativ klein, hochbeinig und leicht, im Gegensatz zu nordamerikanischen Wölfen, die groß, schwer und kräftig sind.

 

Diese habe ich vor allem im Yellowstone Nationalpark beobachtet. Im Winter werden dort nur wenige Straßen offengehalten, ich war dort mit Langlaufskiern oder Schneeschuhen unterwegs und habe neben vielen Spuren relativ häufig Wölfe beobachten können. In den kanadischen Rocky Mountains bei Banff habe ich einen Freund begleitet, der besenderte Schwarzbären erforscht hat. Wenn durch topografische Hindernisse wie einen Berghang eine Weile kein Signal von den Tieren empfangen werden konnte, haben wir Suchflüge mit einem Helicopter unternommen. Dabei waren dann auch meist Wölfe zu sehen. Weitere Wölfe habe ich in Finnland beobachtet, in Indien und nicht zuletzt ausgiebig in Deutschland, im Zuge meiner Arbeiten zu meinem Buch „Deutschlands wilde Wölfe“.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Dass Wolfsrudel meist Familien mit den Jungwölfen der letzten 3 Jahre sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Jedoch gibt es immer wieder Ausnahmen. Rudel, die sich aus versprengten Rudeln neu zusammenfinden oder in denen mehrere weibliche Wölfe reproduzieren. Hast Du derartige Beobachtungen gemacht?

 

Nein, so etwas konnte ich nie belegen. Da ich die Wölfe ja nur beobachte und nicht genetisch untersuche, kann ich dazu aus meiner Erfahrung keine sicheren Aussagen treffen. Aber ich habe über eine längere Zeit das Rudel von Altengrabow in Sachsen-Anhalt beobachtet, das für eine Weile als das größte Rudel Deutschlands galt. Mit einer Serie von Fotofallenaufnahmen konnten 17 Tiere festgestellt werden – aber ob sich auch alle immer in dem Revier aufgehalten haben, ist unklar. Normalerweise besteht das Wolfsrudel aus einer Familie, also einem Elternpaar und dessen Nachwuchs – aber es gibt Ausnahmen mit mehr Würfen. Die Zusammensetzung des Rudels kann bei Wölfen auch flexibler sein. Eine mögliche Erklärung für besonders große Rudel wäre, dass in der Nachbarschaft schon alle Reviere besetzt sind. Ein kopfstarkes Rudel kann sein Revier besser gegen benachbarte Wölfe verteidigen. Aus diesem Grund könnte ein zweiter Wurf innerhalb des Rudels toleriert werden. Auf der anderen Seite benötigt ein besonders großes Rudel auch besonders viel Nahrung. Es hat also Vor- und Nachteile.

 

Studien aus Nordamerika zeigen, dass bei größeren Rudeln ein höherer Anteil der Beutemasse für die Wölfe bleibt und sich so Aasverwerter wie Seeadler, Bären, Raben oder Füchse weniger vom Kadaver sichern können. Das könnte bedeuten, dass beispielsweise ein um ein Drittel größeres Wolfsrudel nicht unbedingt zur Folge hat, dass ein Drittel mehr Rehe, Hirsche und Wildschweine gerissen werden. Fraglich ist auch, ob das so übertragbar auf deutsche Habitate ist.

Das kann ich aus meinen Beobachtungen in Deutschland nicht bestätigen. Wenn ich Wölfe sehe, bewegen sie sich ja meistens nur von A nach B. An guten Tagen lässt sich etwas Sozialverhalten beobachten. Repräsentative Aussagen zur Nahrungsökologie und zur Interaktion mit anderen Arten lassen sich durch direkte Beobachtungen bei uns kaum machen. Aber da Wölfe in Mitteleuropa überwiegend Rehe jagen, also recht kleine Beutetiere, bleibt davon auch nicht so viel übrig.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Douglas W. Smith, der langjährige Leiter des Wolfprojektes im Yellowstone Park sagte einmal: „Wölfe sind ein wer, nicht ein was“! Es ging ihm darum, Wölfe als Persönlichkeiten und nicht nur als instinktgesteuerte Tiere zu sehen. Wie sind Deine Erfahrungen?

Ich habe oft Welpen beobachtet. Sie eignen sich gut zur Erörterung dieser Frage, weil sie vergleichbare Startbedingungen haben, von denselben Eltern abstammen und im selben Gebiet aufwachsen. Man sieht in jedem Fall, dass die Welpen unterschiedliche Charaktere haben: Einige sind draufgängerischer, andere scheuer und vorsichtiger. Manche erkunden die Umgebung alleine, anderen bleiben immer in der Gemeinschaft.

 

Hast Du beobachten können, wie die Welpen lernen?

Das erfolgt vor allem spielerisch: Fangen spielen, rangeln, die anderen umwerfen – so werden Fähigkeiten trainiert, die später bei der Jagd wichtig sind. Dabei helfen vor allem Jährlinge, die als Babysitter bei den Welpen bleiben, während die anderen Rudelmitglieder sich ausruhen oder auf der Jagd sind. Alle möglichen Dinge müssen als Spielzeuge herhalten – etwa Knochen, Federn, Wurzeln oder alte Lumpen, die sie irgendwo finden. Ziel ist es, selbst das Spielzeug zu ergattern und vor den anderen zu verteidigen. Ich hatte immer den Eindruck, dass den Jährlingen das nicht lästig war, sondern dass sie selbst noch Spaß an der Herumtollerei hatten. Das Spielen wirkte auch nicht zielgerichtet in dem Sinne, dass den Welpen etwas beigebracht wurde, sondern unbefangen und voller Lebensfreude.

 

Hast Du Jagdverhalten beobachten können?

Nur ganz selten – da sind besondere Momente. Aber Wölfe sind ohne Frage effiziente Jäger, sonst könnten sie sich nicht so erfolgreich ausbreiten. Sie müssen sehr schnell entscheiden, ob sich eine Jagd voraussichtlich lohnt, und wie hoch das Risiko sein könnte. Das finde ich beeindruckend. Letzen Sommer konnte ich beobachten, wie zwei Hirschkühe in einem Teich mit zwei Kälbern aus dem Schilfgürtel heraustraten. Plötzlich erschien ein Wolf am gegenüberliegenden Ufer. Offensichtlich war er überrascht, sie zu sehen, und entschied eine Sekunde später anzugreifen. Sofort sprintete durch das relativ flache Wasser auf die Hirsche zu. Diese flohen schnell mit kräftigen Schritten in verschiedene Richtungen. Dabei realisierte der Wolf offenbar, dass sie stark und gesund waren. Nach einer kurzen und heftigen Verfolgungsjagd ließ der Wolf von den Hirschen ab und wechselte wieder die Gangart. Man sah deutlich, dass beide Seiten prüften, in welcher Verfassung der jeweils andere war, und die Situation am Ende gleich beurteilten. Für den Wolf lohnte es sich nicht, hier noch mehr Energie zu investieren. Auch Begegnungen zwischen Wolf und Wildschwein konnte ich beobachten, wobei die Wildschweine deutlich selbstbewusster als die Rothirsche waren. Es handelte sich um große Schweine, die sogar auf den Wolf zu rannten – er hatte keine Chance.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Häufig wird über uralte Verbindungen zwischen Wölfen und Raben berichtet. Raben führen die Wölfe zur Beute und werden dann als Mitverwerter geduldet. Teils wird auch über Beziehungspflege zwischen jungen Raben und Welpen berichtet. Ich selbst hatte kürzlich eine längere Beobachtung eines jungen Wolfes, der mehrere Minuten lang spielerisches Verhalten gegenüber zwei Raben zeigte. Diese zeigten sich wenig beeindruckt und blieben trotz des Herumscheuchens gelassen in seiner Nähe. Hattest Du symbiotisches Verhalten zwischen Raben und Wölfen oder andere Interaktionen beobachten können?

Nein, das konnte ich nicht. Ich hatte bei gemeinsamen Sichtungen beider Tiere eher den Eindruck, dass sie unabhängig voneinander agieren. Raben sind häufig Nutznießer von Wolfsrissen, das ist nichts Ungewöhnliches.

 

Zu Beginn sprachst Du von deinem Anliegen in verschiedenen Ländern zu schauen, wie Menschen mit potentiell gefährlichen Tieren zusammenleben können. Was können Menschen in Deutschland von anderen Regionen in der Welt lernen?

Ein bisschen mehr Gelassenheit. Denn die Nachbarschaft zwischen Menschen und Wildtieren ist ja so alt wie die Menschheit selbst. Viele Menschen hierzulande erinnern sich natürlich nicht mehr daran. In den allermeisten Fällen gibt es ja keine direkte Bedrohung von Menschen durch Raubtiere. Probleme treten in der Regel dann auf, wenn der Mensch irgendwo in das ökologische System eingegriffen hat. Zum Beispiel, wenn er Lebensräume zerstört oder den Bestand natürlicher Beutetiere reduziert. Eine mögliche Konsequenz daraus ist, dass Raubtiere sich am Vieh der Menschen vergreifen. So führt ein Problem zum nächsten, aber die Ursache liegt meist beim Menschen. Im Übrigen verursachen Raubtiere gar nicht so viele Probleme. In tropischen Breiten sind große Pflanzenfresser wesentlich konfliktträchtiger – etwa Elefanten, Flusspferde oder Wildrinder. Sie fordern immer wieder Menschenleben. Die Probleme, die wir in Deutschland mit Nutztierrissen durch Wölfe haben, sind da vergleichsweise gering. Und durch die konsequente Anwendung von Maßnahmen zum Herdenschutz lassen sie sich ja auch effektiv reduzieren.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Hast Du eine Idee was Schritte wären, die eine sachliche Diskussion fördern könnten?

Aus meiner Sicht geht es stets um dieselben Dinge: Sowohl Befürworter als auch Gegner von Wölfen sollten einander zuhören, die Bedenken und Anliegen der anderen Seite ernst nehmen und sich respektvoll behandeln. Es ist schade darauf verweisen zu müssen, aber der emotionale und oft beleidigende Umgangston, wie er leider häufig in den „sozialen Netzwerken“ zu finden ist, führt zu nichts. Ich bin ein großer Freund sachlicher Argumente. Mit meinen Büchern, TV-Dokumentationen und Vorträgen arbeite ich seit vielen Jahren daran, Fakten zum Thema „Wölfe in Deutschland“ einem möglichst großen Publikum zugänglich zu machen. Durch meine jahrelange Beschäftigung mit Wölfen verfüge ich inzwischen glücklicherweise über einen gewissen Erfahrungsschatz. Es ist etwas anderes, ob man sich lexikalisches Wissen „angooglet“, oder ob man wie ich schon einige hundert Male wildlebende Wölfe beobachten und eigene Erfahrungen sammeln konnte. Ein großes Privileg, wie ich finde.

 

Ich weigere mich zu glauben, dass sich Lügen und Beleidigungen am Ende gegen Fakten und einen respektvollen gegenseitigen Umgang durchsetzen. Zudem tragen die Wölfe ja auch selbst einen Teil zur Entspannung bei. Jedes Jahr breiten sie sich weiter aus und erobern ihren alten Lebensraum weiter zurück. In den allermeisten Fällen verhalten sie sich völlig unauffällig und es passiert – nichts. Die Zeit arbeitet also für die Wölfe.

 

foto: axel gomille
foto: axel gomille

 

Zum Schluss: Was hat Dich in Deinen vielen Wolfsjahren am meisten überrascht?

Ich hatte das große Privileg, schon viel zu reisen, und zahlreiche beeindruckende Wildtiere, die die meisten Menschen nur aus dem Fernsehen oder aus Zoos kennen, mit eignen Augen zu bestaunen. Dennoch rangiert die Begegnung mit wildlebenden Wölfen in Deutschland noch immer unter meinen faszinierendsten Tierbeobachtungen – das hat mich überrascht. Und natürlich, wie unbemerkt sich Wölfe bewegen können. Stundenlang habe ich versucht, Wölfe zu sehen – bis sie irgendwann anfingen zu heulen. Vor mir, neben mir, hinter mir – wenn auch mit gewissem Abstand. Ich saß gewissermaßen zwischen den Wölfen, ohne einen zu erblicken. Diese Kombination aus Unsichtbarkeit und Präsenz überrascht mich immer wieder.

 

Vielen Dank, weiterhin tolle Beobachtungen und alles Gute!

Herzlichen Dank!


Hier findet ihr weitere Infos zu Axels vielfältigen Aktivitäten. Unten vier ausgewählte Bücher, darunter das zweite, das auch für Kinder ab 8 Jahren geeignet ist.

Deutschlands Wilder Osten

Bücher zum Thema Wölfe / Natur und Mitteleuropa

 

Kosmos Verlag, ab 8 Jahren, Neuerscheinung März 2021

 

64 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-440-16987-2

 

16,00 €

 


Frederking & Thaler Verlag, 3. aktualisierte Auflage, 2018,

164 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3954161478

29,90 €


Von Kilian Schönberger und Axel Gomille

Frederking & Thaler Verlag, 2020

192 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3954163366

39,99 €