Karsten Nitsch wurde in der Teichlausitz geboren, hat sorbische Wurzeln und ist seit frühester Kindheit begeistert vom vielfältigen Leben dieser Region. Ihn allein als Ornithologen zu bezeichnen wird ihm nicht gerecht: Neben seinem Interesse an Vögeln hat er sich intensiv mit Amphibien, Schlangen, Wölfen, Fischottern und vielen anderen Tieren beschäftigt, wobei immer auch ökologische Zusammenhänge im Zentrum seines Interesses standen. Er selbst bezeichnet sich daher als Generalisten und nicht als „Experten“. Karsten ist ein wundervoller Naturfotograf, Blockhausbauer, Spurenleser, langjähriger Naturführer und ein guter Freund. Wer einmal die Natur der Lausitz kennenlernen möchte, findet dafür wohl kaum einen besseren Ort als in dem von ihm selbst gebauten Spreecamp. Links hierzu sind am Ende des Beitrags aufgeführt.
Karsten, wir haben in den vergangenen Jahren einige Touren gemeinsam durch die Lausitz unternommen, immer wenn wir Kolkraben gesehen haben oder wenn die Sprache auf sie kam, spürte ich deine Begeisterung für diese Vögel. Was fasziniert dich so an ihnen?
Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Mich beeindrucken die außergewöhnlichen Leistungen: Sie sind wunderbare Flieger, die sehr hoch, schnell und wendig fliegen können. Ihr Sozialverhalten ist
faszinierend, was auch auf andere Rabenvögel zutrifft. Raben haben interessante Wechselbeziehungen zu anderen Tieren, etwa zu Wölfen. In vielen Mythologien, auch in der germanischen, spielen
Raben eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt ist der Rabe für mich der „Wächter des Waldes“, mehr noch als Eichelhäher.
Warum? Was macht er anders?
Der Eichelhäher ist für mich eher eine Art „Melder“ im Wald – bei einer Störung ertönt sein Warnschrei. Raben warnen noch differenzierter, außerdem fliegen sie oft über den Wäldern, sie haben den
Überblick über das Leben in der Natur, sie sind aufmerksam, klug und schnell, kommunizieren dabei miteinander. In der Lausitz steht vielleicht der Seeadler noch über dem Raben in der
Vogelhierarchie, er ist der König, auch er hat den Überblick, vieles kümmert ihn aber nicht, daher kann ich von dem Verhalten der Raben mehr lernen.
Wo brüten die Kolkraben in der Lausitz? Sie können ja in Felswänden, auf Bäumen oder auf Hochspannungsmasten brüten. In vielen Regionen sind Krähen und Elstern längst Kulturfolger, die vom Nahrungsangebot in den Siedlungen profitieren. Auch können sie im besiedelten Raum nur schwer gejagt werden. Wie sieht das hier mit den Raben und deren Nähe zum Menschen aus?
Die allermeisten Rabenbruten, die ich kenne, befinden sich in den Kiefernwäldern in der Nähe von Waldrändern oder an Schneisen, mindestens ein paar hundert Meter von der Siedlungsgrenze entfernt. Diese Wälder sind nicht natürlich, sondern durch den nährstoffarmen Boden nur mittelhohe von Menschen gepflanzte Kiefernforste, zum Teil mit Unterwuchs. Die Horste werden dann in entlegenen, wenig frequentierten Waldbereichen gebaut. Nur in einem mir bekannten Fall befand sich in der Lausitz ein Rabenhorst auf einem Hochspannungsmast. Dieser war so hoch, dass sich die Raben oben offensichtlich sicher fühlten.
Die Strukturen des Braunkohletagebaus werden von ihnen nicht genutzt, ganz im Gegensatz zu Uhus und Wanderfalken, die beide auf Tagebaubaggern brüten. Insgesamt gesehen sind die Raben sehr scheu. Vielleicht ist das noch eine Nachwirkung der jahrhundertelangen Verfolgung. Raben können 40-50 Jahre alt werden und Informationen über Generationen weitergeben – gut möglich, dass es aus diesem Grund länger dauert, bis sie sich wieder näher an den Menschen herantrauen. Raben ohne Scheu vor dem Menschen kenne ich nur aus einem Brandenburger Wildpark, in dem die Raben von der regelmäßigen Fütterung der Parktiere profitieren.
Wo ziehen Raben noch Vorteile aus der Zivilisation?
Man sieht Raben auch an Mülldeponien, wo sie gemeinsam mit Krähen, Milanen und Möwen nach Nahrungsresten suchen. Ich beobachte sie hier in der
Lausitz häufig, wie sie dem Verlauf der Straßen mit Patrouillenflügen folgen, um nach totgefahrenen Tieren zu suchen.
Wie hat sich hier der Kolkrabenbestand entwickelt?
Hier in Sachsen ist die Population nach vielen Jahren der Verfolgung von 60-80 Brutpaaren 1978-1982 auf 1400-1800 Brutpaare 2004-2007 angestiegen, eine richtige Erfolgsgeschichte. Seit einigen
Jahren kann man sagen, dass in Sachsen alle geeigneten Habitate, also offene Waldlandschaften, besetzt sind.
Erfolgt die Bestandssteuerung ähnlich wie bei Rabenkrähen und Elstern über Nichtbrüter?
Ja. Ein Brutpaar besetzt ein Revier und verteidigt das
gegen Artgenossen. Nicht für alle Raben stehen freie Reviere zur Verfügung. Junge Raben und solche ohne Revier oder Partner schließen sich zu sogenannten Nichtbrütertrupps zusammen. Diese ziehen
umher und stören so auch Revierpaare in ihrem Brutgeschäft. Je mehr Nichtbrüter es gibt, umso mehr Energie muss das Brutpaar für die Verteidigung der eigenen Brut und des Reviers aufbringen,
darüber hinaus wächst die Nahrungskonkurrenz. So sinkt der Bruterfolg automatisch bei steigender Rabenpopulation. Natürlich spielen immer auch weitere Faktoren, wie das Wetter, ein harter Winter
oder ein verändertes Nahrungsangebot eine Rolle.
Einen Grund für das Zusammenschließen der Nichtbrüter zu Trupps findet man im Verteidigen gefundener Beute gegen das Revierpaar.
An einem Wildschweinriss konnte ich über mehrere Tage das Verhalten der Kolkraben beobachten. Teils waren 50-60 Raben um den Kadaver herum zu beobachten, dann waren noch weitere in den umliegenden Bäumen zu hören. Bei kleineren Kadavern neigen die Raben eher zum Verstecken der Nahrung, bei großen werden andere herbeigerufen und man sieht nicht selten viele Raben. Viele würden vielleicht vermuten, dass das in solch einem Fall in ein einziges großes Gemetzel ausartet und alles sich um die Fleischbrocken balgt. In Wirklichkeit sind Raben auch hier sehr vorsichtig. Alles neue, wie zum Beispiel mein Tarnzelt, wie sofort bemerkt und führt dazu, dass es mehrere Tage dauert bis sich überhaupt ein Rabe dem Wildschwein nähert. Ein Kolkrabe bewaffnete sich mit einem Zweig, schaute das Zelt kritisch an und näherte sich dann auf direktem Weg durch das Heidekraut, um das Zelt zu untersuchen.
Hat das Fressen am Kadaver begonnen, sind immer nur ein paar der Vögel am Wildschwein, selbst jetzt ist das Verhalten der fressenden Raben von Vorsicht geprägt. Insgesamt sehe ich bei solchen Gelegenheiten eher eine Art sozialer Zusammenkunft der Raben, als ein Kampf um die besten Häppchen. Verschiedene Gruppen sitzen abseits und kommunizieren miteinander, einige Raben scheinen sich auch zu treffen, sich neu kennenzulernen. Balzverhalten ist ebenfalls zu beobachten. Einzelne fliegende Raben rufen, ebenso wie sitzende Raben in den Bäumen. Natürlich gibt es auch mal einen Konflikt, das spielt aber nicht die große Rolle.
Ich konnte mehrfach kooperatives Verhalten beobachten, etwa wenn ein Seeadler auf dem Kadaver sitzt. Ein offener Angriff auf den Seeadler wäre zu riskant für die Raben – schon eine Wunde durch die mächtigen Krallen oder den starken Schnabel kann am Ende den Tod bedeuten. Ein oder zwei Raben kommen von hinten an den Adler heran und zupfen an seinen Schwanzfedern. Dreht er sich um und versucht die Störenfriede zu verscheuchen, kommt ein Rabe von vorne und holt sich ein Brocken vom Fleisch. Das scheint keinesfalls Zufall zu sein, sondern wirkt wie ein abgestimmtes, wiederholt durchgeführtes Vorgehen.
Das ist schon ein voraussetzungsvolles Handeln!
Die Raben werden sich wahrscheinlich gut kennen. Sie müssen eine gemeinsame Strategie entwickelt haben, diese dann in der Situation absprechen und koordiniert vorgehen. Das ist alles andere als
trivial.
Schon Darstellungen des germanischen Göttervaters Odin zeigten ihn mit den zwei Wölfen Geri und Freki, sowie den Raben Hugin und Munin. Der bekannte
Wolfsforscher Günther Bloch hat in jahrelangen Forschungen in den Rocky Mountains beobachtet, dass in der unmittelbaren Nähe eines jeden erforschten Wolfsrudels ein Rabenpaar brütete. Junge Raben
liefen in die Höhlen, wohl um Kontakt mit den Welpen aufzunehmen. Verließen die Welpen die Höhlen, spielten die Kolkraben mit ihnen ausdauernd. Für die Raben ist wichtig, dass die Wölfe ihnen die
Kadaver toter Tiere öffnen, weil sie mit ihren Schnäbeln nicht durch die dicke Haut von Wildschweinen oder Hirschen kommen. Sie dienen den Wölfen dafür als Anzeiger Aas oder auch lebender Beute.
Für Wölfe ist es bei wehrhafter Beute wie Hirschen oder Elchen wichtig, dass diese fliehen, weil sie so von schräg hinten, der für sie ungefährlichsten Richtung aus angreifen können. Raben wurden
beobachtet wie sie Wapiti-Herden anfliegen und sie so zum Weglaufen bewegen. Hast du ähnliche Beobachtungen in der Lausitz machen können?
In jedem Fall glaube ich an ein Zusammenspiel von Raben und Wölfen. Die Beobachtungen aus Kanada konnte ich hier nicht machen. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich mich keinen Wolfshöhlen
nähere. Erstens sind diese Kerngebiete der Wolfsreviere meist gesperrt, außerdem sollen sie dort auch ihre Ruhe haben. Was wäre ich für ein Naturschützer, wenn ich den Tieren auch die letzten
Zufluchtsstätten nehmen würde, nur um ein tolles Foto zu machen?
Ich habe aber mehrfach an Lappjagden auf Wölfe teilgenommen, also an Lebendfängen um sie für die Forschung mit Sendern zu versehen. Immer wenn wir auf Wölfe gestoßen sind, waren Raben ebenfalls vor Ort. Ein Erlebnis hatte ich, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Ich hockte im Unterholz und wartete auf die Wölfe. Aus der Richtung in der wir sie vermuteten kam ein Rabe direkt auf mich zugeflogen, rief ein Alarmschrei und überquerte meine Position in niedriger Höhe. Direkt hinter ihm brach die Wölfin aus dem Wald und sprang über mich hinweg mit einem weiten Sprung.
Hier in der Oberlausitz leben noch viele Menschen mit sorbischen Wurzeln. Haben die Geschichten und Mythen dieser Volksgruppe auch mit Raben zu tun? Wie
sehen die Leute hier heute die Rückkehr der Raben?
Am bekanntesten ist sicherlich die Krabat-Sage die hier in der Gegend spielt, die zugehörige Mühle steht in Schwarzkollm in der Nähe
von Hoyerswerda. Die Sage gibt es in mehreren Versionen, in jedem Fall ist sie viel älter das Buch von Ottfried Preussler. In der Sage werden die Jungen in Raben verwandelt, diese sind auf dem
Buchband der älteren Version von M. Nowak-Njechorński, einem alten Sorben zu sehen.
Die Lausitzer heute? Nun vielen fehlt schon die Kenntnis um einen Kolkraben von einer Raben- oder Nebelkrähe zu unterscheiden. Das können wohl am ehesten Jäger, Naturfreunde oder Landwirte. Ich
würde sagen, dass es hier sowohl Vogelliebhaber gibt, die von Raben fasziniert sind, als auch beispielsweise Schafzüchter, die glauben, dass Raben sich auf neu geborene Lämmer stürzen.
Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass der überwiegende Teil der tot mit Raben gefundenen Lämmer bereits tot waren, also für Raben nur Aas waren. Ein sehr kleiner Teil waren Tiere, die unrettbar krank und schwach waren.
Das kann ich mir gut vorstellen. Viele Menschen wundern sich, wenn ich ihnen Fotos vom Raben im Sonnenlicht zeige. Sie sehen zum ersten Mal bewusst die in vielen Farben schimmernden Federn und freuen sich dann an der Schönheit der Kolkraben, die vorher für sie ein eher finsteres Image hatten.
Ganz sicher ist das ein schönes Bild für alle die jetzt neugierig auf Raben geworden sind: Wenn man genau hinschaut und –hört erhält man ein anderes Bild von einem Tier und sieht es neuem Licht. Vielen Dank Karsten, dass du dein Wissen mit uns teilst!
Kontakt zu Karsten: www.spreefotograf.de
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